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Es war einmal ...

... eine junge Frau, die wohnte an einem großen Fluss. Eines Tages beschloss sie, dem großen Fluss zu folgen und wanderte mit ihm auf das große Meer zu. Ihr Geist schwebte über ihr und wies ihr den Weg. Eines Tages, als sie so dahin lief, sprach der Geist zu ihr: "Fühlst du dich nicht einsam?" Die junge Frau blieb erstaunt stehen. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht. Zögernd schüttelte sie den Kopf. "Wie kannst du mich auch verstehen! sprach der Geist "Du hast ja kein Herz!" Erstaunt sah die junge Frau zu dem Geist hoch: "Ein Herz, was ist ein Herz?" "Ein Herz, mein Kind, ist wie das Auge - es lässt dich Dinge erkennen, von denen du bisher nicht geglaubt hast, dass sie existieren. Ein Herz ist wie die Haut, mit der du den Wind an deinem Körper vorbeistreichen fühlst. Ein Herz ist hungrig wie ein Magen und du wist mit ihm Dinge kosten, die deine Zunge nie beschreiben könnte. Ein Herz ist ..." "Hör auf!" bat die junge Frau, die vor Neugier über das, was sie nicht haben konnte, in Tränen ausgebrochen war. Da hatte der Geist Mitleid mit ihr und ließ sich auf einem faustgroßen Stein nieder. "Ich werde dein Herz sein. Nimm diesen Stein und lege ihn dir an die Brust!" Die junge Frau tat, wie der Geist sie geheißen hatte und tatsächlich verschwand der Stein in ihrem Körper. Und plötzlich war ihr, als ob sich die Welt um sie herum verändert hatte. Es war, als ob sie alles mit einem zusätzlichen Auge sehen konnte. Neu sehen konnte. Die Fische im Fluss, die Menschen, die ihr auf der großen Reise begegneten. Die Tiere auf den Weiden. Die Blumen am Wegesrand.

Doch eines schönen Tages merkte sie, wie ihr Herz immer schwerer wurde. Sie war von der langen Reise so müde, dass sie sich auf einen Felsen am Fluss setzte. Als sie wieder aufstand, merkte sie, dass ihre Haut in Fetzen herunterhing. Erschrocken begutachtete sie die Wunde. Es war aber kein Blut zu sehen. Nur noch eine dünne Schicht Haut, die sich über einer harten Substanz spannte. Neugierig befühlte sie diese Substanz. Ja, sie kannte das Gefühl. Es war, als ob sie den Stein, den ihr der Geist damals gegeben hatte, wieder in ihrer Hand hielt. Sie befühlte ihren Körper und Angst machte sich breit. Konnte es sein, dass ihr Herz so groß geworden war, dass es nun fast ihren ganzen Körper einnahm?

Da kam ein Mann des Wegs. Er sah die junge Frau an und lachte. "Lacht nicht, helft mir lieber!" schrie die junge Frau stumm, denn ihr Mund hatte verlernt, wie man mit Menschen redet. "Du bist sonderbar!" murmelte der Mann und ging um die junge Frau herum. "So etwas wie du ist mir noch nicht begegnet!" Er überlegte, ob dies nicht ein Geschenk an sich selbst sein könnte, das seiner Eitelkeit schmeicheln würde. "Ich kann dir helfen!" sprach er und ging weiter. "Wie?" die junge Frau folgte ihm, so gut es ging. Doch jeder Schritt verursachte ihr Schmerzen. Sie kamen an ein Dorf. In gebührender Entfernung zu einem Haus bleib der Mann stehen und sprach zu der jungen Frau: "Bleib hier stehen. Die anderen sollen nicht sehen, mit welchem Monster ich hier durch die Gegend laufe. Dort wohne ich. Das ist mein Haus und dort wohnt meine Familie. Sie sollen dich auch nicht sehen, du könntest sie zu Tode erschrecken. Doch ich will vorbeikommen, und dir zu essen geben." So sprach der Mann und verschwand. Einige Tage vergingen, als der Mann mit einer Schüssel voll Essen zu der jungen Frau kam, die sich nun nicht mehr bewegen konnte. Gierig aß die junge Frau ihr Mahl und war dem Mann dankbar. Nach einigen Tagen kam der Mann wieder. Als er ihr dieses mal die Schüssel reichte sprach er: "Ich werde nun einige Zeit nicht kommen. Ich habe ein Fest vorzubereiten. Danach werde ich dir die Reste bringen!" Dieses mal schmeckte das Essen der jungen Frau nicht mehr so gut, obwohl die Haushälterin des Mannes eine hervorragende Köchin war. Drei Tage später hörte sie vom Hause des Mannes Lachen, Kinder spielten und zählten Reime auf. Männer sangen, Frauen kicherten. Es muss ein schönes Fest sein, dachte die junge Frau und wartete hoffnungsvoll auf den Mann, damit er ihr wieder Essen brachte. In ihrer Phantasie schmeckte das Essen besser als alles, was sie je zuvor gekostet hatte. Doch der Mann kam nicht. Regen fiel nieder, die Sonne brannte auf ihrem Körper. Die Nächte waren kalt und die Tage heiß. Da sah sie eines Tages - es waren schon mindestens zwei Wochen vergangen, dass der Mann die Straße heruntergelaufen kam. Aber er hatte keine Schüssel in den Händen. "Was ist mit meinem Essen?" fragte sie, doch der Mann ging eilig an ihr vorüber. "Ich habe keine Zeit, ich treffe einen reichen Kaufmann, mit dem ich verhandeln muss!" rief er ihr über die Schulter zu. Da wünschte sich die junge Frau wieder ihre alte Gestalt zurück, in der sie wenigstens weinen konnte. Nur die stechende Hitze der Sonne überzeugte sie schließlich von ihrem Schmerz.

Die Nacht wurde kühl. Von Ferne hörte sie eine Frau kichern. "Hier ist ein guter Platz, lass es uns hier tun! Mein Haus ist weit genug weg!" flüsterte ein Mann. Und schon bald hörte man nur noch ein leises stöhnen. Die Liebe? Die junge Frau starrte zu den Sternen empor, doch diese zogen nur leise ihre Bahn. Da kam der Mann, das Gewand hastig über sich gezogen an der jungen Frau vorbeigeeilt. Sie hätte ihn fast nicht wiedererkannt in der Dunkelheit. Als er an ihr vorüber war rief sie ihm nach "Und, waren die Geschäfte gut?" Ohne sich auch nur umzudrehen lachte der Mann: "Gut, ja, sehr gut!" und eilte weiter. Da spürte die Frau, wie ein Riss ihren Körper durchzog. Sie war dankbar, denn nachts scheint keine Sonne. Am nächsten Tag kam der Mann wieder mit einer Schüssel voll Essen bei ihr vorbei, doch die junge Frau rührte keinen Bissen davon an. "Was hast du?" höhnte der Mann. "Keinen Hunger mehr." "Iß jetzt!" befahl er doch sie schwieg. Zögerlich fing sie an zu essen. "Was war das letzte Nacht?" fragte sie vorsichtig. "Was war was?" entgegnete er ungehalten. "Diese Frau?" fuhr sie leise fort und spürte, wie sich weitere Risse durch ihren Körper fraßen. "Na eine Frau eben. Frag nicht. Eine Frau wie du hat keine Fragen zu stellen. Du bist ja nur aus Stein. Gut genug um hier am Weg zu stehen, aber für andere Dinge taugst du nicht!" Er nahm die Schüssel, die noch halb voll war und ging zu seinem Haus und seiner Familie zurück. Wieder war einige Zeit vergangen, da kam der Mann wieder mit Essen vorbei. Der Körper der jungen Frau war nun fast vollständig mit Rissen durchzogen. Ein Finger war bereits von ihrer Hand abgebröckelt. Und an anderen Stellen lösten sich auch einige Brocken aus ihr. "Was soll das?" herrschte sie der Mann an. "Du bist meine Statue. Benimmt sich so eine Statue?" Die junge Frau schwieg und aß.

Jahre vergingen. Feste kamen und gingen. Geschäftsabschlüsse wurden gemacht und Frauen kicherten. Die Sonne brannte. Die Nächte wurden kälter. Der Regen zerfraß die letzten festen Bestandteile des Körpers der jungen Frau. Und die Kinder und Kindeskinder haben den Sand längst beim Spiel in alle vier Himmelsrichtungen verstreut. Doch ab und zu steht noch eine Schüssel mit Essen bei einem kleinen Sandhaufen am Rande eines vergessenen Dorfes in dieser großen, weiten Welt.

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