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Spieglein, Spieglein an der Wand ...
Der Alt-68´er ist süchtig nach Spiegeln. Vor allem bevorzugt er diejenigen aus Fleisch und Blut. Die Spiegel, die ihm nur ein zweidimensionales Bild vorwerfen, meidet er. Wohl deshalb, weil er dort rechts und links nicht mehr auseinanderhalten kann. Das Rechte ist plötzlich ganz links außen. Und wie wir alle wissen, hat dies den Alt-68´er in einen Verständnisnotstand geführt. Außerdem schmückt sich unser Alt-68´er gerne bei jeder Gelegenheit mit Tiefe.
Der Alt-68´er liebt die Spiegel, die ihm sein von sich gemaltes Bild in den schönsten Farben zurückgeben. So wie er sich zu sehen wünscht. Er wundert sich jedoch gelegentlich, dass ihn dieses Spiegelbild sehr bald überfordert. Es zwingt ihm diese Rolle, die er sich da zurechtgelegt hat, regelrecht auf. Er sitzt in seiner eigenen Falle.
Er will sich so sehen, ist aber nicht so. Früher oder später wird er sich einen neuen Spiegel suchen müssen, in dem er sich dann wieder bewundern lässt.
Ein Spiegel lügt nicht. Er verdreht höchstens die Tatsachen etwas. Übertreibt gelegentlich. Verzerrt manchmal. Und lässt man ihn im Dunkeln, wird man von ihm nichts erwarten können. Ein Spiegel kritisiert nicht. Er ist weder subjektiv noch objektiv. Er bildet nicht ab. Er zeigt dem Betrachter nur das, was er zu sehen glaubt.
Ja, unser Alt-68´er glaubt an den Spiegel. Genauso wie er seine intellektuellen Hoffnungen auf die Zeit setzt. Er hat anscheinend noch nicht begriffen, dass es in einem Spiegel keine Zeit gibt. Im Spiegel gibt es nur ein jetzt. Kein später, morgen, übermorgen oder gar ein gestern - noch schlimmer, ein vorgestern. Ein Spiegel kann einem aufmerksamen Beobachter das gestern oder vorgestern erkennen lassen. Kommentarlos. Emotionslos. Verständnislos. Emotionen können jedoch bei weniger abgebrühten Beobachtern ausgelöst werden. Bei Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie bitte die Gebrauchsanleitung und fragen ihren Arzt oder Apotheker.
In einen Spiegel sieht man nicht nur mit dem Herzen. Vielleicht sogar am allerwenigsten mit dem Herzen. Man erwartet Bestätigung. Ist hoffnungsvoll, misstrauisch, neugierig, vielleicht auch etwas beklommen vor der sich da zu bestätigen beginnenden Furcht. Die Furcht vor dem Selbst. Aber den Spiegel interessiert das alles nicht. Er ist einfach nur da, um den Beobachter zu piesacken. Mit dem eigenen ICH zu piesacken.
Deshalb wirft unser Alt-68´er auch nur kurz einen Blick in seinen Spiegel, um ihm dann wieder den Rücken zuzukehren, und der Welt zu zeigen, wer er wirklich ist.
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