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Höllenfahrt

Die Teufel der sieben Höllen berieten, welche Maßnahmen zu ergreifen seien, damit sich ihre Besucher bei ihnen so unwohl als möglich fühlten. Ein unterstützendes Marketing-Unternehmen hatte ermittelt, dass es „Oben“ und „Ganz Oben“ bereits genau so chaotisch zuginge, und man deshalb Aktionen und Unterschiede deutlicher hervorheben müsse. Die Beratung dauerte 4700 Jahre. Sie hatten beschlossen, eigens dafür ein Wesen zu erschaffen, an dem sie die Ergebnisse testen wollten. Sie nannten dieses Wesen „Idut“ - Mädchen. Da sie jedoch wenig Ahnung von Menschen hatten, gelang ihnen ihre Schöpfung nur teilweise. Nach 40 Jahren der Schöpfung sprach Luzifer: „So, wir haben jetzt genug getan. Es wird Zeit für unser kleines Experiment.“ Die Teufel brachten Idut zur ersten Hölle, nahmen Notizblock und Kamera zur Hand, um penibel aufzuzeichnen, was denn wohl geschehen würde.

Auf der Tür zur ersten Hölle stand: „Bitte warten!“. So wiesen sie Idut an, sich zu setzen, auf eine Bank, die vor einem großen Gebäude aufgestellt war, aus dem viele Menschen kamen. Vor der Bank stand ein Tisch. „Es wird einer kommen, dich zu prüfen!“ sprach Belzebub, rieb sich die Hände und drehte sich zum Gehen um. So saß Idut da und wartete. Viele Menschen gingen an ihr vorbei, doch es schien keiner dabei zu sein, an dem sie ihr Ziel erfüllen konnte. Sie beobachtete die Menschen, deren leere Gesichter von eiligen Aufgaben sprachen. Die Zeit verging. Idut wurde ungeduldig. Die Zeit verging. Idut wurde ungehalten. Die Zeit verging. Idut wurde wütend. Die Zeit verging. Idut wurde plötzlich sehr traurig. Die Zeit verging. Idut zweifelte an ihrem Sinn für diese Aufgabe und am Experiment an sich. Die Zeit verging. Idut begann zu verzweifeln. Die Zeit verging. Da kam plötzlich ein Mensch an, der meinte „Schön dass du da bist.“ Idut stand auf, bespuckte den Menschen, drehte sich um und ging weinend davon.

Vor der Tür zur zweiten Hölle lag ein Päckchen, das Luzifer aufhob, schüttelte und dann wütend in eine Ecke warf. „Wer hat das hier liegen lassen?“ fuhr er Belzebub an, der für seine Schlamperei mehr als bekannt war. Belzebub zog den Kopf ein, tauchte nach dem Päckchen, öffnete dies und zog ein Türschild hervor, das er mit seinem heißem Zeigefinger an die Tür klebte. Er musste einige Klebepunkte machen, denn das Schild war groß. Oben stand „Preisliste“ und darunter waren nur leere Felder, in die wohl noch etwas hineingeschrieben werden musste. „Immer diese halb fertigen Sachen!“ maulte Mephisto und stieß Idut mit den Worten „Einer wird da sein, um dich zu prüfen!“ durch die zweite Tür. Idut saß wieder an besagtem Tisch vor dem großen Gebäude. Der Mensch war auch wieder da. Hinzu kam ein weiteres Wesen. Eine Kellnerin, wie sich heraus stelle. „Das macht sieben Euro fünfzig!“ Der Mensch erzählte ihr, dass er eingeladen sei. Idut stutze und bezahlte. Der Mensch erzählte ihr, dass er zu einer wichtigen Konferenz müsse. Idut wurde traurig. Der Mensch erzählte ihr, dass sie ihn fahren soll. Idut fuhr. Der Mensch erzählte ihr, wie schleppend sein Buch verkauft würde und dass sie ihm nun wieder ein Buch abkaufen müsse. Idut bezahlte wütend das Buch, an dem sie so viel Zeit investiert hatte. Der Mensch erzählte ihr, wie erfolgreich die Konferenz gewesen sei. Idut bezahlte das Parkhaus. Der Mensch erzählte ihr, dass er nun wieder zum Bahnhof müsse. Idut fuhr zurück. Da schlug der Mensch vor, sich noch in ein Cafe zu setzen. „Du bist eingeladen.“ Idut stand auf, bespuckte den Menschen, drehte sich um und ging weinend davon.

Die Teufel freuten sich über ihre Strategie, als ihnen Idut in Tränen aufgelöst entgegen kam. „Sehr gut, machen wir gleich weiter!“ Mephisto zerrte Idut zur nächsten Tür, auf der stand: „Der nächste, bitte!“. Idut stolperte mit. „Es wird einer da sein, dich zu prüfen!“ rief Belzebub ihr hinterher. Jaja! Das kannte sie schon. Idut fand sich sitzend an einem Tisch in einem Raum mit Menschen, deren Sinn darin lag über Symptome und nicht über Ursachen zu diskutieren. Neben ihr ereiferte sich der Mensch aus den ersten beiden Höllen. Sie blickte ihn aufmerksam an, um zu lernen. Ihre Aufmerksamkeit wurde registriert und dankbar abgewiesen. Idut blickte den Menschen fragend an. Dieser wendete sich einer anderen Frau zu und redete auf diese ein. Idut wurde traurig. Sie zupfte den Menschen am Ärmel, um Aufmerksamkeit zu bekommen, doch dieser hatte bereits wieder ein neues Opfer gefunden. Idut begann zu bedauern, dass sie geschaffen wurde. Da klingelte des Menschen Telefon und er zog sich zurück um lachend zu telefonieren. Idut fühlte sich vergessen, lief hinterher und wurde weggeschickt. Der Mensch hatte bereits wieder eine andere gefunden, der es seine Aufmerksamkeit schenkte. Idut wurde wütend. Ob warten etwas bringen würde? Sie beschloss Geduld, setzte sich und wartete. Nach einiger Zeit begann Idut, sich überflüssig zu fühlen. Der Mensch kam tatsächlich irgendwann zurück. Um wieder mit einer anderen zu reden. Idut begann zu verzweifeln. Da drehte sich der Mensch zu ihr um und sprach: „Es ist doch nichts passiert!“ Idut stand auf, bespuckte den Menschen, drehte sich um und ging weinend davon.

„Mein Werk!“ sprach Mephisto stolz und winkte mit einer Liste, auf der alle relevanten Punkte abgehakt waren. „Hm?“ brummte Luzifer und blätterte in seiner Vorlage. „Dann gehen wir nun zur vierten Hölle.“ Idut folgte den Teufeln – wenig begeistert, von dem, was sie denn nun erwarten würde. „Einer wird ...“ begann Luzifer. „Ich denke, das weiß sie bereits!“ unterbrach ihn Satan. Auf der Tür zur vierten Hölle stand ein Schild mit der Aufschrift: „Gefühle bitte an der Garderobe abgeben!“ Sie fand sich an einem Tisch wieder. Besagter Mensch aus den vorhergehenden Höllen saß ihr gegenüber und jammerte auf sie ein, wie bedauernswert er doch sei. Idut überlegte, was denn Bedauern wohl wäre, doch sie kam zu keiner schlüssigen Antwort – außer vielleicht: Selbstmitleid. Der Mensch erzählte ihr, von einem Partner verlassen zu werden. Idut verstand nicht. Für sie gingen Menschen immer nur vorbei und ihre Teufel wäre sie liebend gerne los. Der Mensch erzählte ihr von seinem großem Leid. Idut wurde wütend über die Anmaßung, Leid zu personalisieren und zu klassifizieren. Der Mensch erzählte ihr von Liebe. Idut spürte die Verzweiflung über Vergänglichkeit in sich aufsteigen. Der Mensch erzählte ihr von der Wertigkeit im Bett. Idut dämmerte die Masse an Vergleichsmöglichkeiten. Der Mensch erzählte ihr von Betrug und Lüge. Idut fand sich bestätigt und begann, Hoffnung zu schöpfen. Der Mensch erzählte ihr von an den Haaren herbei gezogen Möglichkeiten, die er als Fakten verkaufte. Idut wurde traurig über so viel verdrehte Wahrheit. Der Mensch erzählte ihr von Zeit, Schweigen und möglichem Ersatz. Idut kochte vor Wut über so viel ignorante Rechtfertigung. Da blickte sie der Mensch plötzlich streng an und sprach: „Du musst dir auch einen Partner suchen.“ Idut stand auf, bespuckte den Menschen, drehte sich um und ging weinend davon.

„Verdammt, der Speicher ist voll!“ Satan betrachtete skeptisch die Kamera, bei der ein rotes Licht aufleuchtete. „Hol mir sofort einer den Manager der Firma her!“ tobte er weiter. Der Manager war schnell gefunden. Doch dieser konnte mit seinem Produkt wenig anfangen, so dass Satan die Kamera wütend zur Seite legte und sich von Mephisto eine neue geben ließ. Von einem Mitbewerber. „Weiter geht’s!“ sprach Luzifer und öffnete die Tür zur fünften Hölle. „Same procedure as last year?” kicherte Belzebub. “Same procedure as every year!” kicherte Mephisto zurück. Da fiel plötzlich das Türschild ab, auf dem stand: “Kommt Zeit, kommt Rat!“. Nun kicherte Idut. Doch das Lachen sollte ihr bald vergehen. Das sicherste Anzeichen dafür war die Anwesenheit besagten Menschens, den sie eigentlich nicht mehr sehen wollte. Und doch begann sie, die dadurch ausgelösten Seelenschmerzen als angenehm beruhigend zu empfinden. Sie schienen ein Teil von ihr zu sein, ohne das sie nicht mehr leben konnte. Leben wollte. Die Droge begann zu wirken. „Wann sehen wir uns wieder?“ fragte Idut und registrierte Entzugserscheinungen. Der Mensch erzählte ihr, dass sie sich wieder sehen würden. Idut wurde wütend. Hatte sie sich so unklar ausgedrückt? Der Mensch erzählte ihr, dass er das jetzt noch nicht sagen könne. Idut wurde ungeduldig. Der Mensch erzählte von wichtigen Terminen. Idut wurde traurig, weil sie sich unbedeutend und überflüssig vorkam. Der Mensch erzählte etwas wie „kann nicht länger als zwölf Stunden von „dort“ weg sein“. Idut wusste, er hat noch einen Termin und verzweifelte an der Lüge. Der Mensch versprach einen Anruf. Idut ahnte, er hatte sich nur wieder versprochen und Wut kochte in ihr hoch. Niedergeschlagen setzte sie sich auf eine Bank im Bahnhof und beobachtete, wie der Mensch sie verließ, um in den bald davon fahrenden Zug zu steigen. Das streckte der Mensch den Kopf aus der Abteiltür und rief ihr zu: „Ich laufe dir doch nicht weg!“ Idut stand auf, bespuckte den Menschen, drehte sich um und ging weinend davon.

Nachdenklich sahen sich die vier Teufel an. „Ich glaube, da geht was schief?“ unkte Belzebub leise, als Idut wieder zurück war. Ihre Tränen ließen schneller nach, als sonst. „Menschen!“ schnaubte Luzifer „Aber über uns rümpfen sie die Nasen!“ Sie betrachteten Idut neugierig, ob ihr die Veränderung anzusehen war, aber außer den Narben an ihrem Körper konnten sie äußerlich nichts feststellen. „Nun, wir haben ja noch zwei Höllen vor uns!“ Mephisto schob Idut weiter zur Tür der sechsten Hölle auf der ein großes Schild mit der Aufschrift „Abfertigung“ prangte. Neugier war der Angst gewichen und Idut betrat tapfer den Raum. Wie erwartet stand dort der Mensch. Vor einer großen Tafel mit dem Abbild einer Frau. Er hielt einen Zeigestock in der rechten Hand, wies Idut an, sich zu setzen und begann zu dozieren. Der Mensch sprach von der Haarfarbe, so hell und leuchtend wie ein Weizenfeld. Idut zog sich ein paar Haare aus dem Kopf und betrachtete die schwarzen Locken traurig. Der Mensch sprach von blauen Augen, so strahlend, wie der Himmel. Idut erinnerte sich an das Bild, das sie einst von sich in einem Spiegel gesehen hatte. Ihre Augen waren schwarz. Idut kam sich langsam wertlos vor. Der Mensch sprach von der idealen Figur einer Frau. Idut bohrte ihre Fingernägel in ihr Fleisch um etwas herauszureißen. Doch es blieb nur Fett daran hängen. Die Teufel hatten es zu gut mit ihrem Experiment gemeint. Der Mensch sprach vom Wert, geliebt oder nicht geliebt zu werden und woran Mann – also er, der Mensch – dieses sofort erkennen könnte. Idut wurde langsam ziemlich wütend über die Teufel. Da betrachtete der Mensch Idut abwägend und stellte fest: „Mach dir doch nichts vor, ich bin das nicht!“ Idut stand auf, bespuckte den Menschen, drehte sich um und ging weinend davon.

Ihre Tränen waren bereits getrocknet, als Idut den vier Teufeln wieder gegenüber stand. Die Teufel erschraken sichtlich über diese Tatsache. Unsicher geworden, führten sie Idut zur siebten Hölle. Als sie die Tür mit der in goldenen Lettern ausgeführten Aufschrift „Die Krone der Schöpfung“ öffneten, befand sich dahinter ein großer Saal mit allen möglichen Kostbarkeiten. Wertvolle Teppiche und Gemälde. Antike Möbel. Große Kronleuchter und sonstige Dinge, die der Menschen Werk je geschaffen hatte. Die Teufel wiesen Idut an, an einer festlich gedeckten Tafel Platz zu nehmen und setzten sich neben sie. Köstliche Speisen wurden aufgetafelt und die Teufel begannen, gierig zu essen. Da kam der uns nun schon allzu gut bekannte Mensch herein. Umringt von einer Schar vor Frauen. Allesamt Schönheiten, wie sie den Vorstellungen des Menschs entsprachen. Die Gruppe setzt sich ihnen gegenüber. Der Mensch begann, mit der Frau links von ihm zu flirten. Idut blickte den Menschen ausdruckslos an. Der Mensch begann, die Frau rechts von ihm zu küssen. Idut blickte den Menschen ausdruckslos an. Der Mensch stand auf, ging ein paar Schritte und begann, die zufällig vor ihm befindliche Frau zu umarmen. Idut blickte den Menschen ausdruckslos an. Da brach plötzlich Wut, Neid und Eifersucht unter den Frauen aus. Der Mensch suchte verzweifelt einen Platz um sich in Sicherheit zu bringen - vor der Welle der Empörung, die ihm da entgegenschwappte. Idut blickte den Menschen ausdruckslos an. Der Mensch warf Idut einen um Hilfe bettelnden Blick zu, doch sie runzelte nur die Stirn: „Ich glaube, ihr könnt dicht machen!“ Idut stand auf, bespuckte die vier Teufel, drehte sich um und ging lachend davon.

Aeonen später. Himmel, Hölle und irdische Welt haben auf Anraten eines Consulting-Unternehmens fusioniert, um Reibungsverluste zu vermeiden und das Human Capital einer optimierten Prozesskette zu unterwerfen. Da fanden Archäologen ein Stück Papier, auf dem in angesengter Schrift stand: „Selbst die Leidensfähigkeit eines Experimentes ist begrenzt!“

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